Kindergarten online erleben - Erzieher Carsten Hülsmann erzählt vom digitalen Alltag
10. Mai 2020
Die Abschlussklassen sind wieder vor Ort in der Schule und auch für weitere Jahrgänge heißt es bald wieder: Auf in die Schule. Für den Kindergarten ist jedoch das Ende der Schulschließung nicht in Sicht. Wie macht das Erzieherteam eigentlich Gruppenarbeit online? Wie stehen sie im Austausch mit den Kindern und deren Eltern? Carsten Hülsmann, Erzieher in der Windgruppe, hat Antworten auf die vielen Fragen und zeigt, was es bedeutet, online zu sein.
Carsten, seit über 12 Wochen ist der Kindergarten geschlossen. Wie sieht da eigentlich ein Tag eines Erziehers aus?
Es ist einfach alles anders und vor allem alles neu. Ich bin seit 2005 Erzieher und so habe ich noch nie gearbeitet. Die Arbeit des Erziehers ist die direkte Arbeit mit und am Kind und den Familien. Unser Job ist es familienergänzend zu arbeiten. Somit quasi „Part-Time Teil“ der Familien, wenn die Kinder bei uns im Kindergarten sind. Die Interaktionen, die Beobachtungen und die daraus resultierenden Angebote sowie das soziale Miteinander stehen dabei immer im Vordergrund. Die unmittelbaren Reaktionen der Kinder, die leuchtenden Augen, der Spaß beim Singen, Spielen und Lernen fehlen sehr. Wir stellen unsere Angebote online, aber können natürlich nicht sehen, wie die Kinder darauf reagieren, ob die Angebote passen, die Videos zu lang oder zu kurz sind. In unserem regulären Alltag können wir die Reaktionen unmittelbar sehen, nun benötigen wir das Feedback der Eltern, um Angebote zu evaluieren und anpassen zu können. Deshalb ist jede Rückmeldung so wichtig. Die Doppelbelastung der Eltern ist uns dabei sehr bewusst. Da ist zum einen das „Wann?“. Denn die Kindergartenkinder können vieles aufgrund des Alters noch nicht alleine schaffen und benötigen die Unterstützung der Eltern. Und zum anderen das „Wie?“. Wie können Eltern die Angebote altersentsprechend und kindgerecht mit ihren Kindern bearbeiten? Darauf müssen wir beim Erstellen der Angebote sehr achten, denn wir wissen, wie wir diese mit den Kindern umsetzen, aber wir müssen es so entwickeln, dass Eltern dies ebenso können. Das ist für beide Seiten keine leichte Aufgabe.
Was ist dabei die größte Herausforderung?
Für mich war und ist die größte Herausforderung, die Angebote für die Familien so aufzubereiten, dass sie so einfach und selbstklärend wie möglich sind. Wir sprechen uns im Team viel ab und überlegen uns Wege für die Umsetzung. Dabei waren die Absprachen die größte Hürde. Denn auch wir durften bis vor ein paar Tagen die Schule nicht betreten. Verstreut, wie wir alle in Shanghai wohnen, mussten wir Orte finden, an denen wir uns treffen durften und auch effektiv arbeiten konnten. Bei so vielen Laoweis wurden wir in dieser Coronazeit natürlich manchmal auch sehr beäugt.
Wie sieht jetzt eure Gruppenarbeit aus?
Zu Anfang haben wir den eigenen Gruppen einmal wöchentlich Angebote per E-Mails zu den verschiedenen Entwicklungsbereichen verschickt. Allerdings war es gar nicht so einfach, dabei alles zu beachten. Kinder haben verschiedene Anforderungen je nach Alter und Entwicklung. Wir wissen das sehr gut, denn wir führen diesen Beruf schon seit Jahren aus. Somit können wir es den Kindern entsprechend vermitteln. Aber wie können wir es den Eltern vermitteln, dass auch sie es ihrem Kind ansprechend und altersgerecht anbieten können? Vor allem, wenn sie arbeiten müssen oder Kinder verschiedenen Alters Zuhause haben? Und wie bereiten wir Angebote so auf, dass sie an jedem Gerät zu bearbeiten sind oder noch besser von den Kindern selbstständig benutzt werden können? Da wir keine IT-Spezialisten sind könnten wir Probleme nicht immer direkt lösen. Um die Hürden dennoch zu überwinden, entwickelten wir den sogenannten Weltenbummler, der diese anfänglichen Probleme ausmerzt. Sehr wichtig war es uns nun, nicht mehr Einzeln, sondern als Gesamtteam zusammenzuarbeiten, um optimal alle Fähigkeiten, das Fachwissen, die Kreativität und die Interessen des Erzieherteams zu bündeln. Durch gut strukturierte Gesamtteamgespräche, Kleinteam- oder auch Zoommeetings ist der Weltenbummler online gegangen. So ist all unser Wissen gut aufbereitet und in die Bildungsbereiche des Berliner Bildungsplans unterteilt. Um die Online-Plattform auch ansprechend für die Kinder zu gestalten, haben wir uns entschieden, es Weltenbummler anstatt One-Drive zu nennen. Jeder Bildungsbereich ist einem Land zugeteilt. So können die Kinder ins Land der der Sprache und Töne, ins Land der Zahlen, Kreativland, Forscherland oder auch das Bleib-Gesund-Land reisen. Durch unseren besonderen Standort in China sind alle unsere Angebote stark auf den Erwerb der deutschen Sprache ausgerichtet. Zusätzlich haben wir auch einen Ordner, in dem es nochmal speziell um die deutsche Sprache geht. Mit großer Unterstützung der IT konnten technische Probleme gelöst werden. Somit haben wir nun Standards, damit die Eltern und Kinder alle Inhalte zu jederzeit und nach deren Bedürfnissen online abrufen oder auch downloaden können. Und das von jedem Gerät. Ob Handy, I-Pad oder Laptop.
Bietet diese außergewöhnliche Situation auch Chancen?
Als Team haben wir uns noch einmal völlig anders kennengelernt und organisiert. Es werden immer wieder neue Teilgruppen gebildet, um zum Beispiel Videos von Büchern aufzunehmen. Beispielsweise die Geschichte zum Muttertag aufbereitet als Video: Wo ist meine Mami? Oder gemeinsames Musizieren, um Lieder oder Erklärungen für Audiodateien zu erstellen. Diese Angebote zu erstellen, macht eine Menge Spaß, da im Alltag für solch aufwendigen Produktionen oft die Zeit fehlt. Wir haben uns neu erfunden um unsere sonst analoge und persönliche Arbeit bestmöglichst digital aufzubereiten und die unterschiedlichsten Angebote erstellt. Ein Wimmelbild oder eine Geschichte vorzulesen oder auch nachzuspielen, bietet den Kindern viel Freude, wie wir von einigen Eltern gehört haben. Auch freuen sich die Kinder, unsere Stimmen zu hören oder uns in Videos zu sehen. Manchen Kindern fällt genau dies aber auch schwer, da sie sich an die Zeit im Kindergarten erinnern und ihre Spielfreunde oder Erzieher vermissen.
Könnt ihr für die Zukunft etwas mitnehmen?
Wir überlegen die erstellten Inhalte und Angebote wie Bilderbücher, Audiodateien, Experimente, Videos, Lieder etc. auch in Zukunft für die Eltern online zu belassen. So können die Kids zum Beispiel auch in den Ferien ein deutsches Bilderbuch anschauen, bekannte Lieder mitsingen und immer wieder anhören. Weiterhin überdenken wir, wie wir auch andere Inhalte für zum Beispiel Feste und Feiern hinzufügen können. Es bleibt also spannend, wie sich der Weltenbummler noch weiterentwickeln wird.
Wie stehst du mit den Familien im Kontakt?
Der Kontakt ist sehr reduziert. Das ist sehr schade, denn dieser Kontakt ist sehr wichtig in unserer täglichen Arbeit. Im Mai stehen unsere regulären Entwicklungsgespräche an, aber da wir die Kinder selber lange nicht gesehen haben, können wir die Gespräche nicht wie gewohnt anbieten. Wir haben uns daher dazu entschieden, einen Fragekatalog zu entwickeln und unsere Elterngespräche per Zoom mit den Eltern zu vereinbaren. Diese sind eher als Austauschgespräch zu verstehen. So können wir direkt von den Eltern hören, wie es ihnen geht und mit Rat und Tat zur Seite stehen. Zudem stehen wir in engem Kontakt mit unserem Elternbeiratsvorsitzenden Frank Wolf, der sich wie immer sehr engagiert. Ein großes Dank dafür an Herrn Wolf.
Was steht sonst noch an?
Natürlich entwickelt sich die Schule im Gesamten weiter. So haben wir uns zum Beispiel mit der Steuergruppe getroffen, um zu überlegen, wie die verschiedenen Abteilungen mit dem Potenzial der neuen Online-Arbeit umgehen und inwieweit die Errungenschaften der letzten Monate mit in den regulären Schulbetrieb eingebunden werden könnten.
Gibt es etwas, was du vermisst?
Beruflich aber auch privat vermisse ich vor allem die Kinder. Deren Leuchten in den Augen und den Spaß, den unsere Arbeit mit sich bringt. Es macht zwar auch eine Menge Spaß, die Angebote hier mit den Kolleginnen und Kollegen vorzubereiten, aber das ist eher Bildungsarbeit. Wofür mein Herz und das meiner Kolleginnen und Kollegen jedoch vor allem schlägt, ist die Bindungsarbeit. Und die können wir nur im direkten Umgang mit den Kindern und den Familien machen. Davon lebt unsere Arbeit. Das ist das Feedback, welches unsere Arbeit so erfüllt. Ganz ehrlich, wir vermissen die Kinder und Eltern und freuen uns, bald wieder alle in Person und nicht mehr digital zu sehen.
Alle Bilder © Deutsche Schule Shanghai